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Frankreichs Konservative und Deutschlands SPD Das Sterben der Dinos

Nicht zufällig muss der Chef der französischen Konservativen zeitgleich mit der deutschen SPD-Vorsitzenden zurücktreten. Die etablierten Parteien sind überall in Europa in der Bredouille.
Laurent Wauquiez am Tag der Europawahl in Paris

Laurent Wauquiez am Tag der Europawahl in Paris

Foto: JACQUES DEMARTHON/AFP

Es gab Zeiten, da wussten ziemlich viele Deutsche, wer Chef der Konservativen in Frankreich war: Nicolas Sarkozy zum Beispiel, vor ihm Chirac, Giscard d'Estaing und DeGaulle. Alles bekannte Namen.

Doch was ist mit Laurent Wauquiez? Den dürfte man in Deutschland so wenig gekannt haben wie in Frankreich Andrea Nahles. Und ebenso wie die SPD-Chefin ist Wauquiez, Chef der konservativen französischen Partei "Die Republikaner", nun zurückgetreten. "Als ich vom Rücktritt von Nahles hörte, war mir sofort klar, dass damit der Druck auf Wauquiez noch zunehmen würde", sagte der französische Europa-Experte Sébastien Maillard, Leiter des Jacques Delors Institut in Paris.

Beide, Wauquiez und Nahles, waren bei den Europawahlen vor einer Woche durchgefallen. Die einst stolzen Republikaner traf es sogar noch härter als die SPD: Sie holten nur 8,5 Prozent der Stimmen in Frankreich.

Gehen also Europas große Nachkriegsparteien jetzt alle der Reihe nach unter? Gibt Italien, wo die einst großen Rechts- und Linksparteien schon seit Jahren kleine Nebenrollen einnehmen, die Richtung vor?

"Die Geschichte ist noch nicht entschieden", sagte der Pariser Geopolitologe Dominique Moisi, Berater und Mitbegründer des Französischen Instituts für Internationale Beziehungen dem SPIEGEL. Denn noch, so Moisi, sei die Strategie des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, anstelle der alteingesessenen Parteien "eine enorm große Zentrumspartei" zu gründen, ja nicht gescheitert. Der liberale französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing hätte das vor 40 Jahren schließlich auch schon versucht, wenn auch ohne Erfolg. Doch was, wenn Macron es nicht schafft? "Es hängt von seinen Absorptionskräften ab", sagt Moisi.

Die Tragweite des Scheiterns politischer Formationen

Doch andere haben die auch. Noch am Sonntag preschte Marion Maréchal-Le Pen vor, um die Republikaner nach dem Scheitern von Wauquiez in ihre rechtsextremistische Partei Rassemblement National (RN) zu locken.

Maréchal-Le Pen ist die Nichte von RN-Chefin Marine Le Pen. Allerdings sei sie, sagt Moisi, "noch intelligenter und noch gefährlicher". Sie will, wenn es ihre Tante bei den nächsten französischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 gegen Macron nicht schafft, fünf Jahre später gegen einen Nachfolger Macrons kandidieren. Und genau davor fürchtet sich Stratege Moisi: "Die Altparteien sind dann weg, und Macron, man sieht es ja schon heute, hat in seiner schwachen Parteiorganisation keine ebenbürtigen Mitspieler."

Moisis Gedankenspiele führen in die Zukunft, aber sie umreißen die mögliche Tragweite des heutigen Scheiterns politischer Formationen. Denn wer weint den Republikanern schon eine Träne nach? "Sie bezahlen ihre strukturelle Doppeldeutigkeit beim Thema Europa, mal waren sie dafür, mal dagegen", sagte Institutschef Maillard dem SPIEGEL.

In Frankreich gibt es ein sehr konservatives, katholisches Milieu, das zugleich sehr proeuropäisch ist. Diesen Wählern, so Maillard, hätte die zum Teil von Le Pen übernommene Europakritik von Wauquiez gar nicht gepasst. Also seien sie zu Macron abgewandert. Während viele konservative Europakritiker dieses Mal gleich für Le Pen gestimmt hätten. "Macron nützt, dass die französische Rechte in Sachen Europa schon immer gespalten war, schon unter De Gaulle", sagt Maillard.

Droht auch Deutschland ein französisches Szenario?

Andere machen es nicht besser als die Republikaner. Die Liste der bis vor zwei Jahren noch allein regierenden Sozialisten in Frankreich stürzte bei den Europawahlen sogar auf 6,2 Prozent ab. Hat das Wirkung über Frankreich hinaus?

"Der große Unterschied zu Deutschland liegt bisher darin, dass Angela Merkel alle politischen Schocks der letzten Jahre abgefangen hat", sagt der ehemalige Harvard-Professor Moisi. "Aber schon jetzt sieht man, wie verwundbar Annegret Kramp-Karrenbauer ist. Ein Szenario wie in Frankreich ist also auch für Deutschland nicht mehr auszuschließen."

So sah es am Abend der Europawahlen auch die Pariser Zeitung "Le Monde": "Im Grunde bieten diese Wahlen eine große Lektion: Die Zukunft gehört denen, die es auf sich nehmen, sich neu zu erfinden. Alle anderen werden verschwinden", kommentierte das Blatt. Macron und die neuen Rechtsextremisten, etwa in Italien, stellte die Zeitung dabei bewusst in eine Reihe.

Um die Gefahr für die alteingesessenen Parteien in ganz Europa noch deutlicher zu machen.


Anmerkung: Wir haben den Begriff "Altparteien", außer in dem Zitat von Dominique Moisi, im Text durchgehend ersetzt.