Die Pariser Tageszeitung Le Monde sprach von einer "Revolution". Der sonst eher nüchterne Nachrichtenansager des französischen BFM-Fernsehens sah "Deutschland und Frankreich vereint wie nie". Damit schien das Urteil links des Rheins eindeutig. Denn so verhalten die ersten Reaktionen in Deutschland auf die Pläne für einen 500 Milliarden Euro umfassenden Wiederaufbaufonds durch Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron wirkten, so groß war noch am selben Tag der Jubel in Frankreich.

"Eine gute Überraschung", nennt Sébastian Maillard, Leiter des Pariser Jacques-Delors-Instituts, den deutsch-französischen Wiederaufbauplan. "Schon lange war der deutsch-französische Motor kaputt", analysiert er und denkt dabei an die gesamte dreijährige Amtszeit von Macron. Das Zerwürfnis sei so weit gegangen, dass der französische Präsident zuletzt "in den wichtigsten Fragen ohne Deutschland agierte", sagt Maillard. Zum Beispiel, als Paris im März die Einführung europäischer Corona-Bonds als Antwort auf die Pandemie mit Ländern wie Spanien, Belgien und Irland vorschlug. Oder als Paris vor einem Jahr das Ziel der europäischen CO2-Neutralität für das Jahr 2050 vorschlug – jedes Mal, so Maillard, preschte Paris ohne Berlin vor. "In der ganzen Corona-Krise war die deutsch-französische Zusammenarbeit bislang überhaupt nicht Teil der Lösung", bilanziert er, nur um das Ergebnis des Tages umso mehr zu preisen: "Merkel hat das Prinzip von Transfers in Europa akzeptiert, und dass die Europäische Union dafür frisches Geld aufnimmt. Das ist neu, das ist stark."

Dominique Moisi, ehemaliger Harvard-Professor und Mitbegründer des Französischen Instituts für Internationale Beziehungen (Ifri), erklärt sich die französische Begeisterung mit den Ereignissen der vergangenen Wochen. "Nach dem Urteil der Karlsruher Verfassungsrichter, dass die europäische Zentralbank den Euro infrage zu stellen schien, glaubten in Frankreich viele, dass der Bruch mit Deutschland endgültig sei", sagt Moisi. Auf die Karlsruher Richter, glaubt er, hätten Macron und Merkel nun eine passende Antwort gefunden: "Der Glaube ist zurück, dass in Europa alles möglich ist, wenn Deutschland und Frankreich sich verstehen."

Auch Maillard glaubt, dass der Richterspruch wesentlich zum Sinneswandel der Kanzlerin beigetragen hat. "Das Karlsruher Urteil hat darauf gedrängt, Haushaltsmaßnahmen auf europäischer Ebene zu treffen, damit die Zentralbank nicht allein die Unterstützungsmaßnahmen in der Krise schultert", gewinnt er dem in Frankreich bisher so kritisch interpretierten Urteil des Verfassungsgerichts nun sogar Gutes ab.

Der deutsch-französische Motor ist wieder da

Gemein ist den meisten französischen Reaktionen das Lob der Kanzlerin. Viele Jahre lang erzielte Angela Merkel in französischen Umfragen weit höhere Wertschätzung als die Regierenden in Paris. Das änderte sich erst, als Macron in den Élysée-Palast einzog und Merkel ihn links liegen zu lassen schien. Zugleich glaubten auch viele Franzosen, dass Merkels Zeit an der Macht abgelaufen war. Umso erfreuter ist man nun, dass die alte Bekannte Merkel endlich einen gemeinsamen Weg mit Macron gefunden zu haben scheint. "Deutschland wirkte in der Corona-Krise bisher auf sich selbst bezogen", analysiert Pascale Joannin, Generaldirektorin der Robert-Schumann-Stiftung in Paris. "Nun sieht es so aus, als könne der deutsch-französische Motor Europa wieder Impulse geben."

Moisi allerdings warnt, dass von französischer Seite nun viel "Wunschdenken" im Spiel sei. Schließlich seien sich eben noch alle einig gewesen, dass die europäische Reaktion auf die Corona-Krise bisher nicht auf der Höhe der Zeit war. Und dass der wirkliche Grund dafür sei, dass es zwischen Deutschland und Frankreich nicht laufe. Die Ansagen von Merkel und Macron würden deshalb einen "Kompensationseffekt" auslösen. Doch wie lange der anhält, stellt Moisi dahin. Immerhin, sagt er, sei die Reaktion der Börsen vom Montag unmissverständlich: Sowohl in Paris als auch in Frankfurt zog der Leitindex jeweils um mehr als 5 Prozent an. Moisi führt das auch auf den deutsch-französischen Wiederaufbauplan zurück.

"Sie werden nun alle anderen überzeugen müssen"

Selbst für Insider wie Moisi und Maillard kam überraschend, dass sich Kanzlerin und Präsident schon zu Beginn dieser Woche auf ihren Plan einigten und das Ergebnis in einer erst am Morgen angekündigten gemeinsamen Pressekonferenz der Öffentlichkeit präsentierten. Während der Pressekonferenz betonten beide immer wieder ihre Einigkeit und sprachen von Kanzlerin und Präsident als "wir beide". Und doch sind sie vor Rückschlägen nicht sicher.

"Es darf kein zweites Merseburg geben", warnt Maillard in Erinnerung an den deutsch-französischen Gipfel in Merseburg bei Berlin im Juni 2018, als die Ansagen von Merkel und Macron im Kreis der übrigen EU-Länder kaum Zuspruch fanden und schnell vergessen waren. "Wir haben genau hingehört", sagte Merkel in ihrer Pressekonferenz mit Macron mit Blick auf genau jene Zweifel, ob beide in der EU überhaupt Gehör finden.     

"Sie werden nun alle anderen überzeugen müssen", war sich auch der außenpolitische Kommentator des BFM-Fernsehens, Ulysse Gosset, bewusst. Doch genauso sicher schien er sich, dass es Merkel und Macron gelingt. "Das ist historisch. Wir erleben die Wiedergeburt des deutsch-französischen Paares", sagte Gosset. Da war er wieder, der französische Jubel. Im November 2018 hatte Macron zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Bundestag eine Rede gehalten, in der er von der Liebe der Franzosen zu den Deutschen sprach. An diesem 18. Mai konnte man denken, er habe nicht gelogen.