In dieser historischen Nacht, in der 27 europäische Regierungschefinnen und -chefs den EU-Haushalt verdoppeln, ist um sie herum so gar nichts los: leere Bürgersteige im Brüsseler Europaviertel, in den Eckkneipen laufen Fußballspiele. Lange nach Mitternacht hocken hier noch einige Gäste vor ihrem Glas belgischem Bier. Sie quatschen über vieles, aber nicht über die 27, die ihnen, wenn sie ans Fenster treten würden, von drüben zuwinken könnten.

Und doch schreiben die da drüben gerade Geschichte. Denn es ist die Nacht der Einigung. Vorbei die hässlichen Streitszenen der letzten Tage, als der Ungar glaubte, der Niederländer hasse ihn. Vorbei die Zeit der Ultimaten, als der Franzose drohte, vorzeitig abzureisen. Vorbei die Zeit der großen Sprüche, als der Österreicher die Erfolge seiner Fünfstaatenkoalition gegen Deutschland und Frankreich wie einen Sieg im Dreißigjährigen Krieg pries. Vier Tage und drei Nächte ging das so. Endlich vorbei.

Es war der längste Gipfel der Geschichte der Europäischen Union. Nie haben so viele europäische Regierungschefs seit dem Zweiten Weltkrieg an einem Stück so lange zusammengesessen. Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit von den billigen Kneipenplätzen hätten sie vielleicht verdient. Doch auch ohne öffentlichen Applaus kann sich das Ergebnis dieser Nacht sehen lassen. Es ist ein ganzes Paket von Maßnahmen.

Erstens. Es gibt einen Corona-Rettungsfonds, der das von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagene Volumen von 750 Milliarden Euro umfasst. Davon sollen nun 390 Milliarden Euro – und nicht wie zunächst geplant 500 Milliarden Euro – als direkte Hilfen zur Behebung der durch die Corona-Krise entstandenen Schäden ausgezahlt werden. Geld also für Krankenhäuser und Altenheime in besonders von der Krise betroffenen Regionen, überall in Europa. Geld für Schul- und Ausbildungsmaßnahmen in Gebieten, wo die Pandemie viele Menschen arbeitslos macht. Von allen Maßnahmen sollen dabei 30 Prozent in Investitionen in den Klimaschutz gehen, in Gebäudeisolation, öffentlichen Verkehr, Elektrifizierung und erneuerbare Energien. Die weiteren 360 Milliarden Euro des Fonds sollen als Kredite vergeben werden.

"Der Beginn eines solidarischen Europas"

"An jeden so ausgegebenen Euro müsste man eine kleine europäische Flagge kleben, damit die Leute wirklich merken, dass es jetzt Europa ist, das für sie zahlt", schlägt Sébastian Maillard vor, Leiter des Pariser Jacques-Delors-Instituts, einem proeuropäischen Thinktank. Für ihn ist es eine große Nacht: "Der Beginn eines solidarischen Europas!", freut sich Maillard.

Bisher umfasste der EU-Haushalt rund ein Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts. Nun werden es über die drei Jahre von 2021 bis 2023, für die der Corona-Rettungsfonds geplant ist, zwei Prozent des BIP sein, doppelt so viel. Das neue Geld aber zahlen nicht wie bisher die Mitgliedsstaaten in den EU-Haushalt ein, denn:

Zweitens. Die EU selbst nimmt Schulden auf, erstmals in ihrer Geschichte. "Das Prinzip gemeinsamer Schulden schien noch vor Monaten unvorstellbar", kommentieren französische Diplomaten. "Jetzt zeugt dieses Prinzip von dem Vertrauen, das alle Mitgliedsstaaten dem europäischen Projekt entgegenbringen." Und weil es eine historische Nacht ist, eignet sie sich auch für historische Vergleiche. Schon vergleicht man im Umfeld des französischen Präsidenten Emmanuel Macron die Einführung der europäischen Schuldenaufnahme mit der Einführung des Euro durch den Maastricht-Vertrag von 1992. Gemeinsame Schulden seien vom wirtschaftlichen Prinzip her genauso wichtig wie eine gemeinsame Währung, nur sozialer, ist zu hören. Weil sie nämlich gemeinsame soziale Ausgaben ermöglichen.  

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Es ist ein guter Kompromiss und nur logisch: Gemeinsame Währung, gemeinsame Schulden, denn die Coronakrise hat Italien und Spanien völlig unverschuldet schwer getroffen!

Und an alle Nörgler hier: Die Deutschen werden davon profitieren, denn wir sind ein Exportland. Auch die Klimaschutzbindung finde ich gut. Mehrere Fliegen mit einer Klappe sozusagen.

Und für Polen und Ungarn wird es wohl ungemütlich, wenn sie so weiter machen. Eine Zweidrittelmehrheit ist nicht so schwer zusammen zu bekommen, wenn man die Gewaltenteilung praktisch aufhebt, Menschenrechte (z.B. LGBT-Rechte) beschneidet. Das finde ich überhaupt den besten Punkt. Insofern hat die Coronakrise doch etwas gebracht.

Drittens. Weil die Fünfstaatenkoalition um Österreich diese Ausgaben eigentlich nicht wollte, bekommt nun jedes Land ein Trostpflaster: Sie müssen alle weniger EU-Haushaltsbeiträge zahlen als bisher vorgesehen. Dänemark erhält mit 125 Millionen Euro weniger noch den geringsten Rabatt, die Niederlande mit 345 Millionen Euro bekommt den höchsten Rabatt der fünf.

Viertens. Vom Tisch ist damit auch das Vetorecht, das Länder wie die Niederlande in den Vortagen einforderten. Sie wollten damit Bedingungen an die Auszahlungen aus dem Rettungsfonds knüpfen. Dagegen wehrten sich Länder wie Italien und Spanien, in denen die Corona-Krise bisher besonders hart verlief und die sich deshalb besondere Hoffnungen auf den Fonds machen, aber den Einsatz der Mittel nicht von anderen diktiert bekommen wollen. In dieser Nacht einigten sich die 27, dass jeder EU-Staat den Europäischen Rat anrufen kann, wenn er die Mittelvergabe für nicht regelkonform hält. Im Rat müsste dann eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit die Bedenken teilen.

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Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber noch ein langer Weg vor uns. Vielleicht war das Abschütteln eines der extremsten Kapitalistenländer etwas Gutes und hat der sozialen Verantwortung einer Staatengemeinschaft Platz gemacht. Und die Meinung Großbritanniens, dass sich die EU-Beiträge nicht lohnen, ist wohl auch widerlegt. Wenn wir jetzt noch Lobbyismus und Korruption in der EU anpacken, noch etwas mehr Mühe – nicht nur finanziell und vor allem einheitlich – in die Umweltpolitik stecken, vernünftig mit Flüchtlingen umgehen lernen, dann ist das eine solide Politik für eine EU, auf die man endlich wieder stolz sein kann.

Fünftens. Es blieb als Hindernis für eine Einigung noch die Bedingung der Rechtsstaatlichkeit für die Vergabe von EU-Geldern. Ungarn und Polen wirft die EU-Kommission schon seit Jahren die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit vor, etwa bei der Gleichschaltung von Justiz und Medien. Umso mehr wollten diese Länder verhindern, dass zukünftige EU-Mittel erst dann an sie gezahlt werden, wenn sie der Kritik gerecht werden. Doch auch hier gibt es nun einen Kompromiss: Wieder soll im Streitfall eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit des Europäischen Rats entscheiden.

"Wir haben einen Deal", freuten sich die Beteiligten am frühen Dienstagmorgen. Aber wie würden die 27 nun in den nächsten Stunden auftreten? "Es ist immer noch denkbar, dass uns der Rettungsfonds wirtschaftlich hilft, aber politisch schadet, wenn es den Regierungschefs trotz ihrer Einigung nicht gelingt, gemeinsam für die Sache einzustehen", warnt der EU-Experte Maillard. Dann aber hätten die Leute auf den billigen Plätzen doch recht und die Regierungschefinnen und -chefs hätten trotz aller Arbeit in der historischen Nacht den Applaus nicht verdient.