ZEIT ONLINE: Herr Enderlein, Emmanuel Macron hat im Wahlkampf eine klare proeuropäische Haltung vertreten und seinen Wahlsieg zur Europahymne gefeiert. Rettet Frankreichs neuer Präsident jetzt die Europäische Union?

Henrik Enderlein: Der Sieg Macrons ist ein wichtiger Moment. Er hat gezeigt, dass man mit Europa Wahlen gewinnen kann. Zwei Drittel der Franzosen haben für Macron gestimmt.

Dennoch dürfen wir uns keine Illusionen machen: Die europäische Bewegung hat gegenüber dem Populismus nur Zeit gewonnen. Jetzt sind alle proeuropäischen Politiker in der Pflicht, denn wenn ein französischer Kandidat in Vorleistung geht, wenn er Europa gegen alle Trends verteidigt, dann muss Europa Macron die nötige Unterstützung geben. Damit die Extremen in fünf Jahren weniger Zulauf haben als heute.

ZEIT ONLINE: Welche Reformen braucht die EU?

Enderlein: Erstens muss Europa wieder auf den Wachstumspfad zurückfinden. Die Jugendarbeitslosigkeit, die immer noch schwelende Bankenkrise, das können wir uns ein Jahrzehnt nach dem Beginn der großen Wirtschaftskrise nicht mehr leisten. Wir schaffen Verhältnisse, die jungen Menschen keine Chance lassen. Wir zerstören Zukunftsträume und Hoffnungen, gerade von jungen Frauen. Darunter leidet Europa. Die EU muss zeigen, dass sie Teil der Lösung ist, nicht des Problems.

Henrik Enderlein ist Professor für Politische Ökonomie an der Hertie School of Governance in Berlin und Gründungsdirektor des Jacques Delors Instituts. Er hat 2014 mit Jean Pisani-Ferry, dem jetzigen Chefberater von Emmanuel Macron, Reformvorschläge für den damaligen Wirtschaftsminister Macron erarbeitet. © Charles Platiau/​Reuters

Und zweitens: Um Reformen in der EU umzusetzen, müssen Deutschland und Frankreich sie wieder gemeinsam einfordern, anstatt nebeneinanderher zu agieren. Ich denke an die Digitalisierung Europas, ich denke an eine noch stärkere Koordinierung in der Wirtschaftspolitik, ich denke an die Energiepolitik. Wenn Deutschland und Frankreich sich in diesen Bereichen nicht einig sind, wie solch Einigkeit in Europa entstehen?

ZEIT ONLINE: Bisher sind die Positionen der beiden Länder weit voneinander entfernt. Macron hat Deutschland für seine stark exportorientierte Wirtschaft kritisiert. Was kann er von der deutschen Regierung jetzt erwarten?

Enderlein: Wenn ein französischer Präsident den Mut hat, als erstes Zeichen an die Welt zu den Klängen der Europahymne symbolisch durch den Louvre auf Europa zuzugehen, dann muss auch Deutschland den Mut haben, sich von einigen seiner festgefahrenen Positionen zu verabschieden. Es geht doch nicht darum, Europa mit Eurobonds zu der Transferunion zu machen, die in Deutschland als Schreckbild wahrgenommen wird. Macron wird diese Forderung nicht stellen. Aber er wird bessere Lösungen einfordern, als wir sie heute haben, etwa bei einem Haushalt für die Eurozone, bei der Legitimation von Entscheidungen, die die Euroländer betreffen, bei Investitionen, bei der Stabilisierung des europäischen Bankensystems.

ZEIT ONLINE: Obwohl seine Partei dem Konservativen Fillon näher steht, hat der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble schon früh eine Wahlempfehlung für Macron ausgesprochen – ein erstes Signal?

Enderlein: Schäuble ist Profi im Erkennen politischer Entwicklungen. Er wusste genau, dass Macron der einzige Kandidat ist, mit dem Deutschland am Ende überhaupt gut zusammenarbeiten können würde. Jetzt gehe ich aber in der Tat davon aus, dass Wolfgang Schäuble und die Kanzlerin den Gratulationen auch Taten folgen lassen. Deutschland kann es sich politisch und ökonomisch leisten, fest an der Seite Frankreichs zu stehen. Ein Scheitern Macrons ist nicht im Interesse Deutschlands.