Übertreiben es die Deutschen jetzt? Machen sie aus einem Kriminalfall eine außenpolitische Krise und liefern damit nur einen weiteren Beweis für die diplomatische Unerfahrenheit der Bundesrepublik? So wird wohl manch gut geschulter französischer Außenpolitiker gerade heimlich die Nawalny-Affäre in Berlin wahrnehmen. Doch die Regierung in Paris tut das nicht. Sie macht vielmehr das Gegenteil und stellt sich ohne Wenn und Aber hinter eine empörte deutsche Kanzlerin. "Putin ist es mit dem Fall Nawalny gelungen, die deutsche und französische Position gegenüber Moskau einander so anzunähern, dass kaum noch ein Zigarettenpapier dazwischen passt", beobachtet der Pariser Außenpolitik-Experte Dominique Moïsi.

Das war vor der Affäre nicht unbedingt absehbar. Es ist alter historischer Brauch in Paris und Berlin, die Beziehungskrisen des anderen mit Russland im eigenen Interesse auszunutzen. Danach sah es wieder einmal aus, als der französische Präsident Emmanuel Macron im August vor einem Jahr den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf seinem Urlaubsschloss Brégançon am Mittelmeer empfing. Kurz vor dem G7-Gipfel im französischen Biarritz wollte Macron Putin wieder stärker in die französische Krisendiplomatie einbinden, ohne lange Absprachen mit der Kanzlerin.

"Macron sah die Grenzen der europäischen Sanktionspolitik gegenüber Russland, die bei den Konflikten in Syrien und Libyen nicht weiterhalf", erinnert sich Sébastian Maillard, Direktor des Pariser Jacques-Delors-Instituts, an die Lage noch vor einem Jahr.

Nord Stream 2 steht aktuell nicht zur Debatte

Doch die Corona-Krise und ein russischer Mordversuch reichen aus für eine ganz neue deutsch-französische Eintracht. Kaum hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel der Öffentlichkeit in dieser Woche berichtet, dass der im Berliner Charité-Krankenhaus behandelte russische Oppositionelle Alexej Nawalny mit dem russischen Nervengift Nowitschok vergiftet worden war, kündigte der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian an, dass die Regierungen in Paris und Berlin "eine koordinierte Antwort" geben würden. Sie wird nun auch mit den übrigen der 27 EU-Mitglieder abgesprochen. Doch schon jetzt scheint klar, dass Berlin und Paris gemeinsame neue Maßnahmen gegen Moskau planen. "Seit der russischen Krim-Annexion 2014 bestätigen die 27 EU-Mitglieder im Rat ihrer Außenminister alle sechs Monate die geltenden Russland-Sanktionen. Das allein ist schon bemerkenswert, aber jetzt könnten neue Sanktionen hinzukommen", sagt der französische EU-Experte Maillard.   

Noch reden Berlin und Paris offenbar nicht über die Einstellung des Gasprojektes Nord Stream 2 mit Russland, das bisher auch Frankreich befürwortet. Paris sähe in der Einstellung wohl ein falsches Signal an Washington, das genau darauf drängt. Maillard hält deshalb leichtere Sanktionen für wahrscheinlich: "Man wird zum Beispiel die Bankguthaben russischer Persönlichkeiten einfrieren und ihnen Reiseverbote erteilen. Es geht darum, Putin zu ärgern", erklärt Maillard. Was allerdings vielen deutschen Kritikern Putins nicht reichen würde, die wie die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, "echte Konsequenzen" aus dem Fall Nawalny fordern. Hält Frankreich also Deutschland doch vor schärferen Sanktionen gegen Russland zurück? 

Der Strategie-Experte Moïsi bezweifelt das. "Zu viel ist zu viel", sagt Moïsi. Berlin und Paris seien sich einig, dass Giftmordanschläge nicht zur russischen Gewohnheit werden dürften und sie dagegen etwas Spürbares unternehmen müssten. "Frankreich wird dabei nicht auf weniger scharfe Maßnahmen drängen, nur weil es etwa im Libanon oder Syrien auf Russland mehr angewiesen ist", analysiert Moïsi.

Deutschland reagiert oft auf osteuropäische Verbündete

Ein bemerkenswerter Hinweis, denn bisher sah es oft so aus, als verfolge Paris eine kooperativere Linie mit Moskau, weil es die für die französische Außenpolitik besonders drängenden Probleme mit dem Nahen Osten nicht ohne Absprache mit Moskau lösen konnte. Während Deutschland oft zu größerer Härte gegenüber Moskau veranlasst schien, weil die Verbündeten in Osteuropa wie Polen und die Ukraine darauf drängten. "Die komparative Vorteilsnahme einzelner Nationen war immer ein großes Hindernis europäischer Außenpolitik, aber sie findet zwischen Paris und Berlin gegenüber Moskau gerade nicht statt. Das ist ein Fortschritt", sagt Moïsi.

Vielleicht wird dann bei neuen Sanktionen auch die Nato mitziehen. Ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte auf einer Pressekonferenz in Brüssel an, dass "die Alliierten über eine gemeinsame Antwort gegenüber Moskau laufend konsultieren". Mehr sagte Stoltenberg allerdings nicht. Gut möglich, dass die deutsch-französische Abstimmung mit den USA innerhalb der Nato noch nicht so gut funktioniert wie gerade innerhalb der EU gegenüber Moskau.