Jetzt oder nie: In Italien hat Rechtsaußen Matteo Salvini gerade eine Wahl verloren. In Deutschland gibt es Rückenwind für die Aufnahme von Flüchtlingen seit dem Brand in Moria. Frankreich kooperiert derzeit eng mit Deutschland. Polen fürchtet neue Flüchtlinge aus Belarus und Spanien ist mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Dies sind alles Gründe, es jetzt oder nie mit einer neuen Flüchtlingspolitik für Europa zu versuchen.

"Wir werden die umfangreichste Flüchtlings- und Asylinitiative seit über 20 Jahren vorlegen, und zwar für die ganze EU, für alle 27 Mitgliedstaaten", sagt EU-Kommissionssprecher Adalbert Jahnz am Morgen vor seinem großen Auftritt. Am Mittwoch dieser Woche werden Jahnz und die schwedische EU-Kommissarin Ylva Johansson den lang erwarteten EU-Migrationspakt vorstellen, eines der Schlüsselprojekte von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Bisher hatte sich die Kommissionspräsidentin außer um die Corona-Krise vor allem mit langfristigen Herausforderungen wie dem Green Deal und der Klimapolitik beschäftigt. Nun aber geht es für sie um das Hier und Jetzt. Jeder Tag, an dem geflüchtete Menschen auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, zählt. Auch, weil bei jeder Wahl in der EU die Flüchtlingspolitik entscheidend sein kann.

"Jeder muss mehr tun und Verantwortung übernehmen – und genau das wird auch die Kommission tun", sagte von der Leyen vergangene Woche in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union. Daher soll der Pakt allen gerecht werden: Es soll Schluss sein mit dem alten Dublin-Abkommen der EU von 1990, das jenem EU-Land die Verantwortung für einen Flüchtling zusprach, in dem dieser zuerst sein Asylverfahren beantragte. Heute weiß jeder in Europa, dass die Auffangländer Griechenland und Italien damit hoffnungslos überfordert sind. Aber was tritt an die Stelle von Dublin? Die Kommission hat neue EU-Einrichtungen angekündigt, die dort entstehen sollen, wo viele Flüchtlinge eintreffen. Die neuen europäischen Asylrichter und Asylrichterinnen sollen dann in einem Schnellverfahren vor Ort entscheiden, ob jemand eine Chance auf Asyl hat und in ein EU-Land weiterreisen kann, wo ein regelrechtes Asylverfahren durchgeführt wird – oder ob gleich die Zurückweisung droht.

Weniger Flüchtlinge in Europa

Auf diese Weise sollen künftig weniger Geflüchtete in die EU kommen. "Derzeit werden nur 30 Prozent der Flüchtlinge von der EU abgewiesen und in ihre Heimatländer zurückgebracht. Das ist unglaubwürdig", sagt Jahnz. Er meint mit unglaubwürdig, dass die EU nicht genug Flüchtlinge abschreckt. Das soll sich nun ändern. "Wir können bei Asyl- und Rückführungsverfahren helfen", drückt es von der Leyen aus. Jedes EU-Land soll dabei eingebunden werden. Aufnahmewillige wie Deutschland und Frankreich, aber auch die Unwilligen wie Ungarn oder die Slowakei sollen in Zukunft die Abschiebung von Flüchtlingen übernehmen – eine oft schwierige, teure Aufgabe, wenn die Herkunftsländer nicht mitspielen. Aber eben verträglich mit der ungarischen oder slowakischen Haltung, die Flüchtlingsaufnahme grundsätzlich zu verweigern.

Der französische Europa-Experte Sébastian Maillard, Direktor des Jacques-Delors-Instituts in Paris, sieht gute Chancen, dass der Migrationspakt gelingt: "Auch wenn die Bilder aus Moria eine andere Sprache sprechen: Wir erleben aktuell keine neue Flüchtlingskrise. Die Zahlen der Flüchtlinge nehmen ab. Und anders als in der Krise 2015 fahren Deutschland, Frankreich und die EU-Kommission einen eng miteinander abgestimmten Kurs", sagt Maillard.

Dem stimmt auch der grüne Migrationsexperte Jens Althoff, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris, zu: "Deutschland und Frankreich gehen derzeit gemeinsam voran. Wenn sich beide mit Italien, Spanien und Griechenland einig sind, kann der Pakt gelingen", sagt Althoff. Allerdings warnt der Experte vor den Details: "Schnellverfahren an den Grenzen könnten die Rechtstaatlichkeit des Paktes infrage stellen." Zumal sich Deutschland und Frankreich zwar was die Vorschläge auf EU-Ebene betrifft heute einig sind, aber nicht im relevanten Kern ihrer Asylpolitik: "Frankreich hält Afghanistan für ein Land von Krieg und politischer Unterdrückung, Deutschland nicht", sagt Maillard. Deshalb habe es in Paris wiederholt Klagen über Geflohene aus Afghanistan gegeben, deren Asylantrag in Deutschland abgewiesen wurde, bevor sie nach Frankreich umsiedelten. Wie aber sollen dann neue Einrichtungen an den EU-Außengrenzen mit jenen Menschen umgehen?

Doch genau über solche Details wollen Paris und Berlin derzeit nicht streiten. Sie wollen lieber das Projekt von der Leyens pushen. Ob das reicht? Man muss auf die Reaktion in den Niederlanden achten. Dort aber finden im kommenden März Parlamentswahlen statt und die EU-Flüchtlingspolitik kann dabei eine große Rolle spielen. Der Zeitdruck für Ursula von der Leyen ist also groß, schnell zu handeln und dafür zu sorgen, dass aus dem Migrationspakt echte Flüchtlingspolitik wird.