Dominique Moisi ist an diesem Sonntagmorgen völlig deprimiert. "Es ist schrecklich, wir stecken mitten in der größten Gesundheitskrise seit hundert Jahren, in der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg und schaffen es nicht, einig zu sein", sagt der 73 Jahre alte überzeugte Europäer über die andauernden Beratungen der 27 EU-Regierungschefs beim Sondergipfel in Brüssel. Moisi ist Berater des Französischen Instituts für Internationale Beziehungen (IFRI), er unterrichtete lange in Harvard und am Londoner King's College. Der Franzose will keine Ausreden gelten lassen. "Wäre ich Chinese, Russe oder auch nur Amerikaner, ich würde denken, es gibt Europa nicht."

In der Nacht zum Sonntag wurde unter den Regierungschefs am heftigsten über die Höhe des Wiederaufbaupakets gestritten. Die Regierungen aus Berlin und Paris hatten am 18. Mai 500 Milliarden Euro an Zuschüssen vorgeschlagen, die Europäische Kommission daraufhin den Vorschlag auf 750 Milliarden Euro ausgeweitet, plus 250 Milliarden Euro an Krediten. Die Sparsamen Vier, wie sich die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark selbst bezeichnen, wollen diese Summe deutlich herunterhandeln. Auch Finnland hatte sich der Runde am Samstag angeschlossen.

Geht es nach ihnen, soll die Summe der Zuschüsse von 500 Milliarden auf weit unter 400 Milliarden Euro sinken. Außerdem wollen sie am liebsten nur Kredite und keine Zuschüsse vergeben, um Länder wie Italien und Spanien zu schnelleren Reformen zu bewegen. Ein Kompromissvorschlag am Samstagmorgen hatte bereits vorgesehen, die Zuschüsse um 50 Milliarden Euro zu senken und weitere 50 Milliarden auszuklammern. Man war also schon bei 400 Milliarden Euro als Kompromiss. Doch das war den Sparsamen Vier nicht genug. Merkel und Macron hielten dagegen. Spät in der Nacht sagten französische Diplomaten, dass Präsident und Kanzlerin eine Reduzierung der Zuschüsse im Wiederaufplan auf weniger als 400 Milliarden Euro ausschlossen.

Sie verhandeln wie Teppichhändler über gigantische Milliardensummen.

Ein unwürdiger Vorgang, findet Berater Moisi. "Sie verhandeln wie Teppichhändler über gigantische Milliardensummen", schimpft er. Selbst, wenn der Sonntag noch eine Einigung bringe, hält er den jetzt entstandenen Eindruck für "katastrophal". "Zum zweiten Mal wachen wir auf und unsere Regierungen sind zerstritten." Die Argumente der sparsamen Nordeuropäer ließen sich verteidigen, räumt er ein. "Aber zu welchem Preis? Deutschland und Frankreich setzen sich nicht durch. Sie werden zu substantiellen Kompromissen gezwungen. Europas politische Botschaft in der Krise ist eine Demonstration der Schwäche."