Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf einem riesigen Bildschirm in der Pariser La-Defense-Arena
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Frankreich

Überraschende Wende kurz vor Wahl

Am 10. April wählen die Franzosen und Französinnen ihren neuen Präsidenten – oder Präsidentin. Amtsinhaber Emmanuel Macron gilt zwar weiterhin als Favorit, das Resümee seiner Amtszeit könnte aber besser ausfallen, meinen Experten im Gespräch mit ORF.at. Will Macron wieder Präsident werden, muss er viele seiner einstigen Wähler und Wählerinnen also von Neuem überzeugen. Denn der Abstand zu seiner Herausforderin, der Rechtspopulistin Marine Le Pen, wird vor der Wahl überraschend schnell kleiner. Das entscheidende Thema: die Kaufkraft.

Die Kaufkraft wurde zum alles überragenden Thema im französischen Präsidentschaftswahlkampf. Die hohen Energie- und Spritpreise beziehungsweise ganz generell die Inflation dürften die politische Debatte noch einmal angefeuert haben. „Die Menschen scheinen sich sehr darum zu sorgen, wie es mit ihrer Kaufkraft weitergeht. Ob sie sich in ein paar Jahren, die Dinge, die sie sich heute leisten können, immer noch leisten werden können“, sagte Lukas Puschnig vom Pariser Institut des Politiques Publiques (Institut für Öffentliche Politik, IPP).

Zusammen mit Kollegen und Kolleginnen forschte der Ökonom an den konkreten Auswirkungen der Wirtschaftspolitik Macrons: „Wir haben uns die permanenten Reformen im Steuer- und Beihilfenbereich der Legislaturperiode von Macron angesehen und wie diese Reformen das verfügbare Einkommen verändert haben“, erzählte Puschnig.

Wahlnotiz: Frankreichs Feld der Kandidierenden

ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch über die Kandidaten und Kandidatinnen der französischen Präsidentschaftswahl.

Macron nach wie vor „Präsident der Reichen“?

Das Ergebnis der kürzlich veröffentlichten Studie: Es war vor allem die arbeitende Bevölkerung, die durch die Reformen gewonnen hat. Arbeitslose hingegen haben „teilweise sehr viel verloren“, so Puschnig. Zudem fällt der positive Effekt am untersten Ende der Einkommensskala geringer aus als am oberen Ende. Konkret bedeutet das: Die Reicheren profitieren stärker von Macrons Reformen als die Ärmeren.

Bleibt Macron also der „Präsident der Reichen“, wie er von seinen Kritikern seit den „Gelbwesten“-Protesten genannt wird? Puschnig wollte dazu kein Urteil abgeben. Er sei unabhängiger Ökonom: „Wir rechnen aus, es liegt in den Händen der Bürgerinnen und Bürger, sich eine Meinung zu bilden.“

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schüttelt in einer Menschenmenge Hände
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Macron, Mann des Volkes oder doch eher Präsident der Reichen?

Le Pen und die vergessenen Orte

Und das scheinen die Bürgerinnen und Bürger auch getan zu haben. Denn mittlerweile konnte Le Pen ihren Rückstand in den Umfragen fast halbieren und liegt so nur noch knapp hinter Macron. Le Pen sei jene Kandidatin, die von Beginn des Wahlkampfes an das Thema Kaufkraft besetzt habe, wie Andreas Eisl vom Institut Jacques Delors in Paris erklärt.

Zwar habe Frankreich viele Mittel in die Hand genommen, um die Effekte der steigenden Preise auf die Bevölkerung gering zu halten. Auch wirtschaftlich stehe das Land besser da als noch vor fünf Jahren, dennoch zeige sich eine zunehmende Polarisierung innerhalb Frankreichs, so Eisl.

Politologe Menudier zur Frankreich-Wahl

Der französische Politologe Henri Menudier ist aus Paris zugeschaltet und spricht über die kommende Wahl in Frankreich. Vor der Präsidentschaftswahl wird der Abstand zwischen Staatschef Emmanuel Macron und seiner rechtsextremen Herausforderin Marine Le Pen kleiner. Während der amtierende Präsident am Donnerstag in einer Umfrage von Ipsos-Sopra Steria leicht auf 26,5 Prozent fiel, legte die Rechte Le Pen auf 23 Prozent zu.

„Vor allem in den ländlichen Bereichen gibt es viele schlecht bezahlte Arbeitsplätze.“ Verschiedene Industrie- und Wirtschaftssektoren, die „nicht besonders produktiv oder international kompetitiv“ seien, würden sich teilweise stärker nach protektionistischen Maßnahmen sehnen. Macron könne den Betroffenen aufgrund seines wirtschaftsliberalen Zugangs hier kein Angebot machen. Anders Le Pen: „Sie ist sehr gut darin, diese vergessenen Orte, wo es wirtschaftlich nicht so gut läuft, anzusprechen und hat auch viele lokale Besuche durchgeführt“, sagte Eisl.

Industriepark an der Oise in Frankreich
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Während Macron vor allem in urbanen Zentren punkten könne, gelinge Le Pen, Menschen in Frankreichs ruralen Industriegebieten anzusprechen, so der Experte Eisl

Milliarden von Brüssel nach Paris

Auch die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) schreibt in einem Kommentar, Macron habe sich mit seinen Reformen vor allem Zeit gekauft. Pünktlich zur Wahl „schnurre“ die französische Wirtschaft zwar, "aber die großen ökonomischen und sozialen Probleme des Landes habe auch Macron nicht gelöst. Puschnig bestätigte das: „Die positiven Effekte wurden dadurch erkauft, dass Beiträge und Steuern gesenkt wurden. Aber dieses Geld fehlt notwendigerweise im Staatshaushalt und muss wieder ausgeglichen werden, entweder durch die Senkung von Staatsausgaben und Beihilfen, die Erhöhung anderer Abgaben und Steuern, oder durch eine erhöhte Staatsschuld.“ Längerfristig könnte vor allem das Sozialsystem im Land darunter leiden.

Trotzdem ist Frankreich Eisl zufolge „relativ gut“ durch die Krise gekommen – das sei sehr wohl auch Macron zu verdanken. Vor allem auf europäischer Ebene habe Macron Erfolge zu verbuchen, etwa mit dem Beschluss des Wiederaufbauplans, wodurch es ihm gelang, Milliarden von Brüssel nach Frankreich zu bringen.

Indes sei die französische EU-Ratspräsidentschaft stark vom Ukraine-Krieg überschattet worden. Lorbeeren, die sich Macron beispielsweise vom EU-Gipfel in Versailles mit dem Vorschlag eines neuen europäischen Wachstumsmodells erhoffte, seien ausgeblieben – beim Gipfel ging es vorrangig um Russland-Sanktionen. Auch die Rolle als Vermittler im Ukraine-Krieg sei ihm bisher nicht geglückt. Zwar habe Macron kurz nach Kriegsbeginn in den Umfragen zulegen können, dieser Effekt sei jedoch wieder verpufft. Vieles ist also „nicht so aufgegangen, wie er (Macron, Anm.) es wollte“, stellte Eisl fest.

Junge Frauen auf einer Einkaufsstraße in Nantes (Frankreich)
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Die Kaufkraft ist das Topwahlkampfthema, vorangetrieben durch Le Pen

Russland-Beziehungen der Opposition zweitrangig?

Unterdessen scheinen die engen Beziehungen der Oppositionskandidatinnen und -kandidaten zu Russland „weniger eine Rolle zu spielen, als man sich das denken könnte“, sagte Eisl. Vor allem Le Pen pflegte in der Vergangenheit enge Kontakte zu Russlands Präsident Wladimir Putin, die neuen Dokumenten zufolge auch den Rubel ins Rollen gebracht und sich in hohen Parteispenden und Krediten manifestiert hätten.

Dass die Wählerschaft solche „Ungereimtheiten“ in Kauf nehme, sei darauf zurückzuführen, dass eine Stimme für Le Pen „ja auch gewissermaßen eine Proteststimme“ ist. Die Wählerinnen und Wähler seien mit dem Status quo unzufrieden und würden dann leichter über ebensolche Dinge hinwegsehen, so Eisl.

Marine Le Pen (Rassemblement national)
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Le Pen vermag es vor allem Protestwähler hinter sich zu versammeln

Rechte noch vor der Wahl „großer Gewinner“

Der Erfolg Le Pens ließe sich noch auf weitere Faktoren zurückführen – etwa auf die Politik des anderen rechtsextremen Oppositionskandidaten Eric Zemmour. „Mit Zemmour gibt es einen Kandidaten, der noch extremer ist. Und das normalisiert zu einem gewissen Grad die Politik von Le Pen. Zemmour ist ganz stark auf Provokation aus und vertritt stark rechtsextreme politische Positionen“, analysierte Eisl. Obwohl sich Le Pens Postionen inhaltlich kaum geändert hätten, wirke sie „deutlich gemäßigter und präsidialer“. So sei es ihr gelungen, viele Stimmen von Zemmour zurückzugewinnen.

Dazu komme, so schreibt die „New York Times“ („NYT“), dass „praktisch der gesamte französische Wahlkampf von der Rechten und der extremen Rechten bestritten“ wurde. Macron gab indes den beschäftigten Staatsmann und hielt sich weitgehend zurück. Noch vor den Wahlen sei die französische Rechte also „der große Gewinner“, so die „NYT“. Denn während rechte Kandidaten die Umfragen bestimmen würden, beherrschten deren Themen ganz generell die politische Debatte: von der nationalen Identität über Migration eben bishin zur Kaufkraft, eigentlich ein „traditionells Terrain der Linken“, so die „NYT“.

Linke „schon lange sehr fragmentiert“

Die Linke habe indes mit der Zersplitterung ihres Wählerpotentials zu kämpfen: „Es ist ein großes Problem, dass die Parteienlandschaft speziell links der Mitte in Frankreich schon lange sehr fragmentiert ist“, sagte Eisl und verwies auf das „breite Spektrum“ an linken politischen Kandidaten und Kandidatinnen. Hierbei gebe es viele verschiedene Strömungen, die Gretchenfragen unter den Linken seien vor allem die Postion zu EU und Atomkraft.

Macron habe es 2017 geschafft, Wählende sowohl rechts als auch links der Mitte anzusprechen. Diesmal gebe es aber die Befürchtung, dass ihm das nicht mehr gelingt und viele linke Wählerinnen und Wähler den Urnen gänzlich fernbleiben. Unter anderem deshalb, weil sie Macrons Wirtschaftspolitik nicht vertreten und ihre Ideale nicht mehr „verraten“ wollten, nur um eine rechtsextreme Präsidentin zu verhindern, so Eisl.

Zwar habe Macron bei seinem letzten Wahlkampftermin versucht, die sozialpolitisch wichtigen Themen aus seinem Programm hervorzuheben, um zu zeigen, dass er tatsächlich ein zentristischer Kandidat sei, inwiefern ihm das gelungen ist, könne jedoch schwer beantwortet werden, so Eisl.

Der französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Melenchon (LFI)
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Der linke Kandidat Melechon liegt in Umfragen auf dem dritten Platz

Stichwahl wahrscheinlich

Klar sei aber: „Links der Mitte gibt es in Frankreich viel Wählerpotential.“ Und so hat es sich etwa der linksextreme Kandidat Jean-Luc Melenchon zur Aufgabe gemacht, in der ersten Runde die Rechtsextremen, in der zweiten Runde Macron zu schlagen.

Lag Melenchon, der bereits zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidat antritt, zu Beginn des Jahres noch an letzter Stelle in den Umfragen, gelang es ihm in den vergangen Monaten stark aufzuholen. Mittlerweile hat er den dritten Platz inne. Sein Wahlkampfsymbol: eine Schildkröte. Denn diese, so Melenchon, bewege sich zwar langsam, aber kontinuierlich zum Ziel – und schaffe es so letztlich, ihre Mitstreiter aus dem Rennen zu werfen.

Gerechnet wird allerdings damit, dass es, wie bereits 2017, zu einer Stichwahl zwischen Macron und Le Pen am 24. April kommen wird. Auch wenn derzeit wohl alle Zeichen auf eine zweite Amtszeit Macrons im Elysee-Palast stehen, warnte niemand Geringerer als Macron selbst vor voreiliger Siegesgewissheit. Schließlich hätte auch den Brexit vor der Abstimmung niemand für möglich gehalten.